Digitales Ragnarök

In wenigen Tagen – am 22. Februar – ist Ragnarök. So zumindest wurde es uns versprochen. Es wird ein großes Erdbeben geben und der Fenriswolf wird frei. Thor wird mit der Midgardschlange ringen, Heimdall wird erst in sein Horn stoßen und dann eine fröhliche Schlägerei mit Loki anfangen, Naglfar, das Totenschiff nimmt Fahrt auf, die Einherjer, die in der Schlacht gefallenen Krieger, ziehen mit den Asen, den nordischen Göttern in den Krieg … So erzählen es die alten Sagas.

Eine glorreiche Schlacht wird es werden! Ja, liebe Weltuntergangsgemeinde, glorreich und … unzeitgemäß. Wilde Schlachten, Wikinger in Rüstungen – dafür ist in unserer Welt kein Platz mehr. Außer auf der Leinwand. Wenn das Totenschiff über unsere Meere fährt, jagt ihm ein russisches Alfa-U-Boot einen Torpedo in den Rumpf. Nein kein Alfa. Ich bitte um Verzeihung, die Alfa-Klasse ist ausgemustert. Es wird wohl eher ein Akula sein. Wenn die Riesen über die Welt herfallen, treten ihnen die U.S. Marines in den Hintern. Oder die Navy SEALS. Die Midgardschlange wird in ölverseuchten Ozeanen schon nach Minuten draufgehen. Nein, die große Schlacht, die „Götterdämmerung“, muss anders laufen. Wir leben in einer modernen Zeit.

Digital Warfare ist das Stichwort. Wir leben in der Zeit des Internets, in der Zeit von Facebook und WhatsApp. Hielt man vor wenigen Jahren noch die Feder für mächtiger als das Schwert, müssen wir als gegeben akzeptieren, dass das Bit nunmehr mächtiger als die Feder ist. Auch dieser Text ist am Computer getippt und nicht mit Feder und Tinte auf Büttenpapier gekritzelt. Obwohl ein solches analoges Vorgehen die Reichweite so manches kleinen in den Weiten und Untiefen des weltweiten Netzes vor sich hin vegetierenden Blogs wahrscheinlich deutlich vergrößern würde.

Ragnarök im digitalen Zeitalter also. Ja, die Götter sind darauf vorbereitet. Sie schickten schon vor Jahren ihre Agenten zu den Größen der IT-Welt. Dem Vernehmen nach beteiligten sie sich Anfang der 1980er an einem Unternehmen im kalifornischen Cupertino. Wir erinnern uns kurz an unseren letztwöchigen Literaturunterricht: Die Asen sind nur unsterblich, solange sie von den Äpfeln der Idun essen. Wollte vielleicht jemand Steve Jobs‘ Firma ein unsterbliches Image verpassen?

Doch wir sollten uns dem Thema mit dem notwendigen Ernst widmen. Es wird also ein Erdbeben geben und die Ketten zerbrechen, die Fenris halten. Bis dahin ist die Angelegenheit unspektakulär. In Brandenburg soll es auch wieder Wölfe geben. Und dann? Der Legende nach begibt sich Odin zu Mimirs Brunnen. Mimir ist … nun ja, Mimir ist ein Wesen. Mehr wird nicht berichtet. Er ist der Hüter der Quelle der Weisheit, ein Unbekannter enthauptete ihn und Odin unterhält sich immer wieder mit seinem Kopf, wenn er Rat sucht. Unterhielt sich, denn jetzt gibt es das Internet. Es gibt Google. Odin muss also auch nicht mehr zum Brunnen latschen. Er öffnet seinen Browser und tippt: „Ragnarök ist da, die Riesen kommen. Was soll ich tun?“ Google antwortet: „RAGNARÖK – Bar und Club, Riesenspaß Tag und Nacht bis die Ärzte kommen“

Das hilft dem armen Odin natürlich nicht viel. Er sucht keinen Spaß, er sucht Rat. Doch es geht weiter! Die Midgardschlange entpuppt sich als fieser Computerwurm. „Donnerwetter!“, staunt Thor. „Hätte ich doch nur Fenster im Computer.“ Verzweifelt greift er zu seinem Hammer und drischt auf seinen Mac ein. Im letzten Moment gelingt es ihm, den Wurm auf seinem Rechner zu stoppen – auf Kosten der allgemeinen Funktionsfähigkeit des Gerätes natürlich. Die Welt ist vor der Midgardschlange gerettet. Für den Donnergott selbst allerdings ist es zu spät. Sein Facebook-Account ist gelöscht und jeder weiß, was das bedeutet: Ohne Facebook-Konto existiert man nicht. Da hilft auch keine Göttlichkeit.

Odin nun nimmt sich noch ein iPhone – ich meine einen Apfel – und beginnt seinen Kampf mit dem Fenriswolf. Doch dann kauft ein gewisser William Gates III. Apple auf. Mit einem wölfischen Grinsen und Odins Schicksal ist besiegelt. Doch fürchtet euch nicht, meine Kinder! Odins Untergang wird gerecht! Facebook kauft Microsoft.

Nebenbei klärt sich hier auch zumindest teilweise die Kleiderfrage. Die Einherjer nämlich werden in graue Anzüge gesteckt und erhalten einen Crashkurs in Jura.

Und so stellt sich zwischen Gut und Böse ein Gleichgewicht ein und eine neue Welt entsteht. Eine schöne neue Welt, in der sich alle Menschen lieb haben und jeder jedem zeigen kann, dass ihm gefällt, was der Andere macht. Es gibt nichts mehr, das irgendjemandem nicht gefällt.

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